Ausgangslage

Gemäß den gesetzlichen Vorhaben werden in Deutschland Kernenergie und Kohlekraft abgeschafft, die Kernenergie bis zum 31.12.2022, die Kohle auf einem absinkenden Pfad bis aktuell 2038 oder sogar schon bis 2030. Im Gegenzug wurden aktuell noch Gaskraftwerke als „Übergangstechnologie“ zur Stützung des Netzes zugebaut, was gemäß Koalitionsvertrag der Bundesregierung auch noch deutlich erweitert und beschleunigt werden soll. Angesichts der derzeitigen Kriegssituation in der Ukraine und der potentiell kritischen, vielleicht sogar länger andauernden Energieversorgungslage in Europa ist die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit letzteren Zieles in Frage zu stellen, zumal schon vor der jetzt aktuellen Situation das deutsche und europäische Stromnetz mehrere Male vor einem Kollaps stand und nunmehr künftig Erdgas wohl nicht mehr so planungsgemäß bzw. wie bisher zur Verfügung stehen wird. Der Politik und der Energieversorgungswirtschaft stellt sich nun die Frage, ob und in welchem Umfang bestehende konventionelle Kraftwerke die Versorgung weiter stützen und absichern müssen. Dass hierbei deutsche Kernkraftwerke eine durchaus entscheidende Rolle spielen können, sollen die folgenden Ausführungen aufzeigen.

Strombedarf

Ungeachtet der aktuellen potentiellen Krisensituation bleibt der Strombedarf, der in der Regel zwischen 40 und 80 Gigawatt (GW) liegt, bestehen, bzw. steigt u.a. wegen der Elektromobilität und zahlreicher Wärmepumpen in Neubauten auch noch sukzessive an. Das gilt nicht nur für den jährlichen Gesamtbedarf, sondern auch für den maximalen Strombedarf in der Stunde des Jahres mit dem höchsten Verbrauch, wie er in Analysen zur Lastdeckung unterstellt wird. In der Systemanalyse 2021 der Übertragungsnetzbetreiber für 2021/2022 wurde diese Höchstlast mit 87,9 GW angenommen (ohne Netzverluste auf Ebene der Übertragungsnetze in Höhe von ca. 4 Prozent). In der Grafik unten ist diese Höchstlast und die Entwicklung der installierten Nettoerzeugungsleistung konventioneller Kraftwerke gemäß Monitoringbericht 2021 der Bundesnetzagentur abgebildet.

Verfügbare Leistung

Die Stunde mit der Höchstlast fällt dabei aufgrund der Erfahrungswerte der vergangenen Jahrzehnte auf eine frühe Abendstunde in einem Wintermonat bei kalter winterlicher Witterung, so dass die Erzeugung mittels Fotovoltaik bei null anzusetzen ist. In einer Flautensituation ist für die Windkraft maximal 5 Prozent der installierten Leistung als verfügbar anzusetzen, also rund 3,3 GW von dann rund 66 GW onshore und offshore. In Flauten kann allerdings die tatsächliche Leistung der Windkraftanlagen für signifikante Zeiträume von mehreren Tagen auch deutlich unter den Wert von 5 Prozent der installierten Leistung fallen. Laufwasserkraftwerke (5,6 GW) und Stromerzeugung mit Biomasse (7,8 GW) können grundsätzlich in vergleichbarer Weise zur Bedarfsdeckung beitragen wie konventionelle Kraftwerke, allerdings können ein Teil der Wasserkraftwerke und aktuell die meisten Biomassekraftwerke keine Systemdienstleistungen zur Stabilisierung des Stromnetzes erbringen.

Wie bei allen technischen Anlagen ist auch bei Kraftwerken und sonstigen Stromerzeugern eine nicht geplante Nicht-Verfügbarkeit zu unterstellen, etwa durch Defekte oder eine geplante Nicht-Verfügbarkeit auch in den kritischen Wintermonaten, weil etwa Wartungs- oder Reparaturmaßnahmen umfangreicher Art erforderlich sind, die sich auch über den Winter erstrecken. Um dem Rechnung zu tragen, wird eine technische Nicht-Verfügbarkeit von 5 Prozent über die konventionellen Erzeugungstechnologien angenommen (vergl. VGB, UBA). Für Laufwasserkraftwerke und die Stromerzeugung mit Biomasse werden die Nicht-Verfügbarkeiten aus dem letzten Leistungsbilanzbericht der Übertragungsnetzbetreiber von 2020 gemäß historischer Erfahrung angenommen, also 72 Prozent bzw. 40 Prozent. In der untenstehenden Abbildung sind diese Aspekte dargestellt.

Problem Gasmangellage

Wie erkennbar, ist bereits ohne Gasmangellage ab Januar 2023 der maximale Strombedarf mit innerdeutscher Erzeugung bei unveränderten Bedingungen hinsichtlich Kernenergie- und Kohleausstieg nicht mehr abgedeckt, es besteht ein Defizit von 4,9 GW. Bei einer Gasmangellage, wie sie infolge des Kriegs gegen die Ukraine und den daraus resultierenden geopolitischen und energiewirtschaftlichen Verwerfungen jederzeit denkbar ist, wie durch die Ausrufung der ersten Stufe des Notfallplans Gas durch die Bundesregierung aktuell dokumentiert, ändert sich die Lage noch einmal deutlich zum Schlechteren.

Die so genannten ungekoppelten Anlagen zur ausschließlichen Stromerzeugung mit Gas und einer installierten Leistung von (aktuell) 9,4 GW (BDEW) sowie die gasbefeuerten Industriekraftwerke mit einer installierten elektrischen Leistung von 5,3 GW (BDEW) gehören, anders als die privaten Verbraucher oder Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen in der öffentlichen Wärmeversorgung, nicht zu den so genannten geschützten Verbrauchern im Rahmen des Notfallplans Gas. In einer Gasmangellage ist somit zu unterstellen, dass diese Anlagen nicht verfügbar sein werden.

Daraus ergibt sich eine rechnerische Unterdeckung von 19,6 GW gegenüber dem Bedarf gemessen an der diesjährigen, angenommenen maximalen Last. Dies kann theoretisch durch Importe abgedeckt werden, da die physikalische Gesamtleistung aller Grenzkuppelverbindungen bei mehr als 23 GW (BNetzA) liegt. Allerdings – und abgesehen von möglichen Nicht-Verfügbarkeiten auch hier – wird von einer Gasmangellage, die von einem Importstopp oder Embargo des russischen Gasbezugs verursacht wird nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa betroffen sein, etwa auch das für die Absicherung der Stromversorgung Süddeutschlands besonders wichtige Österreich (Gasstromerzeugung 16 Prozent, im Winter 20 bis 30 Prozent; Gasimportanteil Russland: 80 Prozent) oder Italien (Gasstromerzeugung 43 Prozent, Stromimport: 12 Prozent; Gasimportanteil Russland: 40 Prozent) das dann ebenfalls auf erhöhte Stromimporte angewiesen sein wird.

Auch ist in einer derartigen Stresssituation, die durch das von der EU geplante Kaufverbot für russische Steinkohle noch verschärft wird, nicht auszuschließen, dass die Integrität des europäischen Stromverbundes nicht aufrecht erhalten werden kann, und der Verbund in mehrere getrennte Zonen zerfällt, die dann für gewisse Zeit autark ihre Versorgung gewährleisten müssten. Im Januar 2021 ist ein solches Szenario auch ohne allgemeine Stresssituation aufgrund des Versagens von Netzkomponenten in Südosteuropa bereits eingetreten, wenn auch damals nur für kurze Zeit.

Fazit

Die installierte Leistung weiter betriebener Kernkraftwerke kann in einer akuten Stresssituation für die Stromversorgung den Unterschied zwischen der Aufrechterhaltung und dem Kollaps des Stromnetzes ausmachen, gerade wenn die besondere regionale Verwundbarkeit in Süddeutschland mit in Betracht gezogen wird. In solch einer Stresssituation, wenn Netzspannung UND Frequenz in den engen vorgegebenen Grenzen gehalten werden müssen, wird JEDER großtechnische nichtvolatile Stromerzeuger (und dazu gehört die Kernenergie) dringend benötigt, um das Stromnetz zu stabilisieren. Kernkraftwerke können hierbei durchaus das „Zünglein an der Waage“ sein. Es ist zur Sicherung der Stromversorgung der deutschen Bevölkerung im Krisenfall wie jetzt  unverantwortbar, diese am Netz befindlichen Kraftwerke einfach abzuschalten.

Zur derzeit gelegentlich aufgeworfenen Frage der Sicherheit in Konfliktfällen ist bereits länger bekannt, dass kerntechnische Anlagen zu den bestgesicherten industriellen Anlagen überhaupt gehören und deswegen einen guten Schutz etwa gegen terroristische Anschläge bieten, der auch in einem hypothetischen Fall von Kampfhandlungen im Umfeld eines Kernkraftwerks wirksam wäre. Eine etwaige Abschaltung würde wegen der an den Standorten ohnehin bestehenden oberirdischen Zwischenlager keinen wesentlichen Zugewinn an Sicherheit für den Fall eines völkerrechtswidrigen, bewussten und gezielten militärischen Angriffs mit sich bringen.

Last but not least trägt ein – auch nur kurz- oder mittelfristiger – Weiterbetrieb von Kernkraftwerken in Deutschland durch seine praktisch CO2-freie Stromerzeugung auch zur Zielerreichung des Klimaschutzes bei – und dies eben ohne neue Investitionen, Genehmigungs- und Errichtungszeiten sowie Versorgungsrisiken für neue Gaskraftwerke. Die durch einen begrenzten Weiterbetrieb zusätzlich entstehenden radioaktiven Reststoffe haben verglichen mit den bestehenden Inventaren aus jahrzehntelanger Kernenergienutzung nur einen geringen Umfang.

Berlin, 07. April 2022

Pressekontakt: Nicolas Wendler, Tel.: +49 172 237 91 84, E-Mail: presse@kernd.de

Kerntechnik Deutschland e.V. (KernD)

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Vorsitzender des Vorstandes: Thomas Seipolt

Geschäftsführer: Dr.-Ing. Thomas Behringer

Sitz: Berlin, Amtsgericht Charlottenburg, VR 21055 B

Aktuelle Relevanz der Kernkraftwerke für die Versorgungssicherheit

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